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Liquide Landschaften

 

 

Bilder von gleißenden Landschaften verschwimmen in Unschärfe, als wären sie durch die Fensterscheibe eines hindurchjagenden Zuges fotografiert. Das Objektiv einer Zoomkamera scheint die Motive herauszugreifen und fokussiert seine Suche auf Seeufer und Apfelbäume bis hinein in die Tiefe der Welt eines mit freiem Auge nicht mehr wahrnehmbaren Mikrokosmos. Das entstandene Bildmaterial gleicht jenen Momentaufnahmen und visuellen Erinnerungs-Fragmenten, die beim Zappen durch Fernsehprogramme über die Netzhaut flimmern.

 

Die jüngste Bilderserie von René Herar spiegelt die Wirklichkeit, als ob deren Erscheinung gerade noch im Moment ihres permanenten Wandels zu packen wäre, um sie schließlich in die Gegenwart von Malerei zu rücken. Im Kaleidoskop trivialer Erscheinungen wird Alltägliches ins Besondere transformiert, das Austauschbare mit Intensität belegt und das Sich-Verflüchtigende in die absolute Präsenz gehoben. Herars Malerei konzentriert sich weder auf die Selbstreflexion der malerischen Bildmittel, noch zeigt sie Spuren eines expressiven Farbauftrages wie eines persönlichen Malgestus. Seine Intensionen bei den als "Blurred Landscapes" bezeichneten Arbeiten führen konzeptuelle Untersuchungen mit neuen Vorzeichen weiter, welche bereits die beiden Werkblöcke "Streifenbilder" (1987-94) und "Randbilder" (1994-99) bestimmt haben. Bei diesen Bildwerken wurden durch fließende Farbzonen Bildräume geschaffen, die sich von den Rändern zum Zentrum in ihrer Lichtintensität steigern.

 

Das Bildhafte überschreitend, entwickeln sich die "Streifenbilder" zu Objekten, sobald die Streifen in die Platten eingefräst werden. Die "Randbilder" multiplizieren sich in eine Installation wie bei der Ausstellung "Illusion und Raum" in der Dominikanerkirche Krems 1998, wo die Farbflächen auf kubische Holzblöcke appliziert und der Vertikalen entzogen als Erntefeld ins Kirchenschiff gesät wurden. Jedes Randbild und jedes Streifenbild  kann als selbstreferenzielles System betrachtet werden, das mit der von korrespondierenden Werken besetzten Umgebung, dem Raum ihrer Installation und den um sie herumschreitenden Beobachter in Kommunikation tritt. Die haptische und dinghafte Materialität bricht schließlich in Auge und Empfindung des Betrachters, um sich eine räumliche Illusion aufzulösen.

 

"Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sie besteht aus Kommunikation zwischen Menschen", erklärt der Systemtheoretiker Niklas Luhmann und überträgt diese These weiter auf die Kunst. René Herars Streifen-und Randbilder haben sich allen medienexternen Inhalten entledigt und spielen mit den Aspekten ihres internen Ausdrucks. Nach Luhmann entsteht "Sinn" im Beziehungsfeld von Differenzen, wie System - Umwelt, Medium - Form, Form - Inhalt. Diese Differenzsetzung kann erst durch den Bezug zu Anderem entstehen, setzt also Kommunikation voraus. Die Werke Herars denken diese Komponente von vornherein mit: Die Streifen- und Farb/Lichtzonen-Arbeiten sind darauf hin angekegt, erst im Augenblick des Sehens ihre Botschaft zu formulieren und auszusenden, welche dann von Persönlichkeit und Standort des Betrachters bedingt stets modifiziert ankommt.

 

Verläuft in diesen Arbeiten die Kommunikation zwischen Beobachter und sich selbst thematisierendem Werk direkt und unmittelbar, so führen die "Blurred Landscapes" Untersuchungen von bereits beobachteten Bildern durch. Nach dem kybernetischen Modell wäre dies als eine Unmittelbarkeit zweiter Ordnung zu bezeichnen, das heißt eine Beobachtung des Beobachters. Die "Blurred Landscapes" reflektieren eine bereits wahrgenommene, mediatisierte Welt. Mehrere fein gearbeitete Farbschichten erzeugen in den Ölgemälden einen fotorealistischen Illusionismus, der - wie die an Vergrößerungen klein- und mittelformatiger Negative erinnernden Formate - auf Codes von Techno-Bildern verweist. René Herar hat einen Speicher der technischen, mediatisierten Bilderwelt angelegt, deren Items er unmittelbar und spontan aus Zeitschriften, Magazinen und Werbeprospekten herausgreift. In das wahrscheinlich in zehntausendfacher Auflage existierende anonyme Bild greift Herar individuell ein. Er zoomt bei den "Blurred Landscapes" auf den Hintergrund des Bildes etwa einer Marlboro-Werbung, retouchiert diesen Ausschnitt und bläst ihn in seiner Malerei um ein Vielfaches auf.

 

"Poppy Flower" von 1999 zeigt das Motiv einer schlichten Mohnblume im Gras als fotorealistische Ölmalerei. "Poppy Flower" existiert ebenfalls appliziert auf einen Holzwürfel und als Fotografie. "Poppy Flower" lässt sich jedoch auch im Rasterfeld körniger Pixel erkennen. Vor dem Hintergrund der Malerei der 1990er Jahre, die an die Komplexität ihrer Untersuchungen in den 1960er Jahren anknüpfte, wurde der Begriff "Immedia" geprägt. Der Kurs der Malerei vom primären Ort des Visuellen, der sichtbaren Natur, hat sich bereits im 19. Jahrhundert auf die Visualität der Medien gerichtet. Mit der Erfindeung der Fotografie wie des Films und dem Aufkommen der Printmedien erkannte die avantgardistische Kunst ein neues Feld der Reflexion. Manet blickte durch die Linse des Fotoapparates. Die Collage der Kubisten besetzten Drucklettern, und aus deren ausgeschnittenen Papierschnitzel wurden mit dem globalen Dada in den Äther gezischte Wortschnitzel. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts bezog sich die Pop-Art auf die öffentlichen Bilder. Die Malerei reagierte auf die Welt der technisch-vervielfältigten Bilder, wie etwa jene in der Produktwerbung, doch wurde nicht weiter verfolgt, diese mit den eigenen Werkzeugen zu untersuchen und somit malerisch zu überwinden. Es wurde jenen jüngeren Arbeiten überlassen, in denen der als "Immediatisierung" bezeichnete Prozess der Bilder angehalten wird, um nach ihrem Erscheinen in unterschiedlichen Medien die Frage des Visuellen neu zu stellen.

 

René Herar sucht nicht die Verbindung mit der Wirklichkeit, sondern setzt die Welt der Techno-Bilder als zweite Natur voraus, wo es gilt ihre Effekte und Codes zu durchdringen, in die Malerei zu transformieren und umzuschreiben. Unschärfe und Flimmern versetzen seine Bilder in einen schwebenden, immateriellen Zustand und formen liquide Landschaften einer elektrifizierten Welt.

 

Rosemarie Burgstaller

DÄMMERUNG

 

 

Schon während meiner frühen Kindheit war die Zeit der Dämmerung oft eine Zeit konzentrierter Achtsamkeit.

Besonders intensiv war dieses Erleben an manchen Sommertagen, wenn wir in einem Nebenarm der Donau den dort lebenden Fischen nachstellten.

Wenn sich der Abend über das Land senkte und sich das Tageslicht mehr und mehr zurückzog, lud sich für mich alles ringsumher mit einer sanften aber unwiderstehlichen Energie auf. An vielen Abenden im Sommer wird das stehende Gewässer von Weihern und Nebenarmen der Flüsse bei Anbruch der Dämmerung spiegelglatt. Es wird in einem tatsächlichen Sinn still.

 

Die Schatten der die Gewässer umrahmenden Büsche und Bäume dehnen sich und werden undurchdringlich. Scheinbar ausströmend von diesen dunklen Orten gibt die Natur einen sanften Geruch ab – feucht und erdig. Es ist wie ein Atmen, ein Aufatmen, das einem erleichterten Seufzen nach der Hitze des zu Ende gehenden Tages gleicht. Die schon bei Tageslicht dunkle, schlammige Farbe des Wassers verdunkelt sich bei Anbruch der Dämmerung weiter und vereint sich mit den wachsenden Schatten an den Ufern. Der schlammige Geruch des Wassers mischt sich mit dem Dunst der Wälder. Diese Verwandlung vollzieht sich mit einer fast unheimlichen Geschwindigkeit.

 

Noch heute im Erwachsenenalter, wenn es sich ergibt, dass ich diese Metamorphose des Tages in den Abend bewußt wahrnehmen kann, baut sich in mir eine Art von aufmerksamer Spannung auf. Es gibt diese kurze Zeitspanne, wenn sich die Dunkelheit vertieft, während der sich das Gehirn nicht entscheiden kann, ob die visuelle Wahrnehmung mittels Zäpfchen oder mittels Stäbchen erfolgen soll, ob noch genug Farbe in der Welt ist oder ob schon das skotopische Sehen angemessen ist, das beim Menschen nur mehr Hell- und Dunkel Eindrücke verarbeitet. Es gibt Augenblicke, in denen die dunklen Umrisse der im Schatten liegenden Dinge und die hellen Formen, die noch von den Resten des Tageslichts beleuchtet werden, in einer sehr dynamischen und unsteten Weise gleichsam oszillieren. Es sind Augenblicke, in denen die „ganze Welt“ zum Vexierbild wird. Es sind Momente, in denen sich die unendliche Feinheit des kosmischen Gefüges erahnen läßt und scheinbar feste irdische Grundlagen für einen kurzen Zeitabschnitt ins Wanken geraten. 

Wenn man bereit ist, sich dieser Wahrnehmung hinzugeben, wird in diesen Momenten fühlbar, dass die feste Struktur der Welt nur eine Illusion ist und die vertraute Struktur um uns in jedem Augenblick neu entsteht. 

Dieser gewaltige Feuerball mit seiner im Verhältnis zu seinem brennenden Kern hauchdünnen Kruste, auf dem wir mit der unglaublichen Geschwindigkeit von 107.000 Kilometern pro Stunde um die Sonne kreisen, gibt uns das trügerische Gefühl von permanenter Stabilität. Er hat seinen Platz, seine vollendete Bahn nur aufgrund der derzeit perfekten kosmischen Konstellation. 

Wenn beispielsweise der Mond, der an den wolkenlosen Tagen des Jahres in seiner silbernen Stille und Pracht über den Wäldern, Hügeln und Städten aufgeht, im All nur ein wenig weiter von der Erde entfernt wäre, würde die gesamte Biosphäre der Erde kollabieren. Das Schlingern und Torkeln unseres Heimatplaneten wäre so verheerend, dass wir uns als Spezies nicht halten könnten. Die Wetterlage wäre so extrem, dass permanent auftretende Stürme und gewaltige Niederschläge alle menschlichen Bemühungen zunichte machen würden. Unsere im Vergleich zarten und winzigen Körper könnten den stellaren Kräften auf Dauer nicht widerstehen.

 

Aber genau das ausgewogene Kräfteverhältnis dieser immensen Energien ist in diesem unserem kosmischen Augenblick sehr günstig! So günstig, dass es trotz der unfassbaren Weite des Raumes und seiner scheinbar unendlichen Möglichkeiten schwer wird, von einem Zufall zu sprechen. Und weil die Situation, die auch an das Zentrum eines Taifuns erinnert, wo Stille ist inmitten der wütenden und entfesselten Sturmkräfte, so nährend und wohlwollend ist, sind wir vor allem an manchen Tagen im Hochsommer Protagonisten in einem immer wiederkehrenden bipolaren Ablauf von großer Erhabenheit.

Im gleissenden Sonnenlicht dieser heissen Tage sind wir zeitweilige Gäste des Feuers. Das Feuer streift unsere Körper. Wer zulange draußen in der überbelichteten Welt des lodernden Wahnsinns bleibt wird Verbrennungen behalten. An diesen "langen und liedlosen Tagen" sehnen wir uns spätestens am frühen Nachmittag insgeheim schon nach den Stunden der Dämmerung. Vielleicht um am Abend die Reste der Energie des Sonnenfeuers in uns zu genießen, vielleicht um uns von der milden beruhigenden Abendluft streicheln zu lassen. Wenn die sich ausdehnende Dunkelheit uns umfängt, in deren Umarmung die Wälder einschlafen, kann sich ein Gefühl von Heimat einstellen. Wenn diese Dunkelheit, “die mit dem Dunkel in den Violinen verwandt ist”, wie es Rainer Maria Rilke sagt, mit der Schwärze der sich einschleichenden Finsternis eins wird, stellt sich eine Ahnung vom Heimkommen ein. 

Und obwohl wir in den friedlichen Armen des Abends angekommen sind, fragen wir uns manchmal im Innersten, was da draußen vorgeht? Welches heimliche Leben lebt da außerhalb der Lichter unserer erleuchteten Plätze und erhellten Innenräume –  was passiert dort am Rande der Dunkelheit, wo der Schein unserer am Abend entzündeten Feuer endet.

 

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René Alexander Herar                                                                    

......versus blank 2.0

 

 

 

1990 erscheint das Buch "Devant l'image" (1999 deutsch: "Vor einem Bild") von Georges Didi-Huberman, in dem er in seinem Text: "Die Kunstgeschichte an den Grenzen ihrer einfachen Praxis" die Betrachtung eines etwa um 1440 vom Dominikanermönch Fra Angelico im Kloster San Marco in Florenz gemalten Freskos zum Anlass nimmt, eine Argumentation zu entwickeln, mit der er das Formlose nicht als einfache Negation der Form, als stabile Nichtform vorstellt, sondern als eine Bewegung, als einen Prozess, der zu einer Überschreitung der Form führt. Auf dem Fresko "Verkündigung" von Fra Angelico im Kloster San Marco in Florenz nimmt eine aus weißen Kalkpartikeln bestehende Fläche, die zwischen dem Engel auf der linken Hälfte des Bildes und der knienden Maria auf der rechten Hälfte sich gleichsam aus dem Bildhintergrund nach vorne schiebt, das Blickzentrum ein. Diese weiße Zone ist weder sichtbar im klassischen Sinne, dass sie etwas darstellt oder repräsentiert, wie es etwa die beiden Figuren tun, noch ist sie unsichtbar, weil sie eben sinnlich wahrnehmbar ist. Das Weiß verweist auf ein Abwesendes, dem Raum gegeben wird, ohne es darzustellen. Die Präsenz dieses Verborgenen verweist auf die Metaphysik der Verkündigung.

 

Das Bildereignis im florentinischen Kloster wird durch die Figuren der Szene bestimmt. Im Vordergrund steht im Sinne der Exegese das Unbeschreibbare, das im Bildraum zwischen den Figuren stattfindet. Martin Heidegger beschreibt den Raum als das Walten der Dinge in Beziehung zueinander. Jedes Ding schafft durch seine Anwesenheit im Raum einen Ort, es verortet sich. Für Georges Didi-Huberman ist der Raum prinzipiell nicht dadurch gegeben, dass er sich messen oder objektivieren lässt, vielmehr abständig, unendlich und tief, also das worauf Maurice Merleau-Ponty abzielt, wenn er von einer Tiefe spricht, die unter dem „suchenden“ Blick entspringt.“ Der suchende Blick an sich schon verwandelt den Raum zu einer Projektion des Begehrens. Dasselbe - und vielleicht noch deutlich verstärkt - gilt daraus folgend für den Raum der Kunst. Es ist ein Raum des Begehrens, den Werk und Betrachter miteinander teilen und in dem sie systemisch zueinander in Beziehung stehen.

In der Analyse der "Verkündigung" im Kloster in San Marco kehrt Didi-Huberman die kunstgeschichtlich gültige Deutungshierarchie des Bildes um: die dargestellten Figuren rücken in den Hintergrund, der Raum zwischen ihnen ist nicht nur als Topos zentral sondern auch das Ereignis betreffend. Genauer betrachtet läßt sich diese Konstruktion der Umkehrung, die durch die inhaltlich diametrale Umdeutung des Frescos im Kloster San Marco nachvollziehbar wird, in einer Vielzahl zeitgenössischer Positionen der Kunst erkennen. Wenn der Wunsch, das Undarstellbare des Mysteriums sichtbar zu machen, bestimmendes Anliegen der sakralen Kunst schon zu ihren Anfängen war, so weicht diese Bildstrategie im 20. Jahrhundert einer Verweigerungshaltung. Künstler thematisieren mitunter die Abwesenheit des Nichtdargestellten bzw. des Nichtdarstellbaren selbst. Sie eröffnen Leerstellen und blinde Flecken auf unterschiedlichste Weise, um die Präsenz der Absenz aushaltbar und kommunizierbar zu machen.

 

Wenn die Leerstelle im Bildraum heute nicht mehr ein epiphanes Ereignis repräsentiert, was bedeutet das für uns zeitgenössische Bildbetrachtende?

Didi-Huberman nähert sich dieser Fragestellung aus "metapsychologischer" Perspektive und stellt die These auf, dass der Blick durch die psychische Konstruktion der Realität sozusagen entsteht und auf diese Weise über das sinnlich Erfassbare hinausweist. In seinem Buch (Original: 1992) "Ce qui nous voyons, ce qui nous regarde" (1999 deutsch: "Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes") übernimmt Didi-Huberman eine Denkfigur von Jaques Lacan. Dabei geht Didi-Huberman bei seinen Ausführungen von dem Befund einer "unausweichlichen Spaltung des Sehens" aus, die in uns das, was wir sehen, von dem trennt, was uns "anblickt" oder "angeht". Lacan: »In unserem Verhältnis zu den Dingen, das konstituiert ist durch die Bahn des Sehens und geordnet nach den Figuren der Vorstellung, gleitet, läuft und überträgt sich von Stufe zu Stufe etwas, das jedoch immer bis zu einem gewissen Grade umgangen wird – es ist das, was Blick heißt. «1

 

Dieses Angeblickt-werden des Betrachters von der Objektseite aus führt Didi-Huberman auf die Wahrnehmung einer Abwesenheit, eines Verlusts oder Entzuges zurück. Wie lässt sich diese Aussage verstehen? Die Beschreibung der Situation des "Angeblickt-werdens" dient als eine rhetorisch-philosophische - man könnte sagen - List der logischen Umkehrung. Objekte der Beobachtung verfügen selbstverständlich von sich aus über keine Wahrnehmungsmöglichkeiten. Sie sind lediglich ein Spiegel. "Aus-gebildet" und vollendet werden sie durch den Blick des Beobachters. Der polnische Philosoph Roman Ingarden definiert Kunstwerke als schematische Gebilde, die selbst nicht vollständig in jeder Hinsicht ausformuliert sind, sondern nur in bestimmten Ansichten oder Teilaspekten. Ingarden bringt bereits Anfang der Dreißiger Jahre des 20sten Jahrhunderts den Begriff der Unbestimmtheitsstelle in den kunsttheoretischen Diskurs.2 Ein anschauliches Beispiel für eine solche Unbestimmtheitsstelle ist die Fotografie einer Person, die deren Hinterkopf zeigt, und nicht ihr Gesicht. Im Gegensatz zu einer realen Person, die sich zum Beobachter wendet oder einer dreidimensionalen Statue, die umschritten werden kann, bleiben die nicht gezeigten Zonen auf Dauer unbestimmt. Das Antlitz bleibt eine Leerstelle.

 

Wir wissen aus Erfahrung, dass sich schon auf den ersten Blick subjektive Vorstellungen sozusagen in die Wahrnehmung einschreiben und persönlich gefärbte Ergänzungen entstehen. Brisant ist in diesem Zusammenhang, dass die Leerstelle auch genau der Ort der Schnittstelle ist, wo das Bild in eine kognitive Struktur im Bewusstsein des Beobachters übersetzt wird. So gesehen lässt sich die Aussage machen, dass jedes Bild eine hohe Dichte an Unbestimmtheitsstellen aufweist. Daraus ergibt sich wiederum eine unendliche Deutungsvielfalt eines einzigen Bildes.

Die Konstruktionsmöglichkeiten der Deutung gehen weit über das hinaus, was am materiellen Objekt selbst als reine beobachtbare Information vorhanden ist. Die Leerstellen von Bildern sind also die entscheidenden Zonen, die beim Betrachter kognitive Impulse der Irritation auslösen.3 Es kommt daher immer darauf an, welcher individuelle psychologische Filter über das Sehen eines Objektes gelegt ist. Eine neutrale Beobachtung, die den Beobachtungsgegenstand aufgrund der ontologischen Struktur des Beobachtungsystems in einem unveränderten Zustand belassen würde, kann es nicht geben. Jeglicher Vorgang von Beobachtung verändert den untersuchten Gegenstand. Immer steht der Wahrnehmungsfilter des Betrachters als vermittelndes Medium zwingend gleichsam als Auswahl- und Reduktionsmodus vor dem beobachteten Resultat. Wenn wir die Wahrnehmbarkeitsstruktur von Fotografie und Malerei wie oben beschrieben zur Kenntnis nehmen, dann wird einsehbar, dass sie im Prinzip auf einer Dialektik sowohl der Einblendung und als auch der Ausblendung beruhen, einer Dialektik von Erscheinung und Entzug. Fotografie und Malerei machen daher nicht nur sichtbar, sondern bringen aufgrund der ontologischen Unschärfe der Beobachtung auch zum Verschwinden. Ihr latentes Potential zur Beunruhigung wird ausgespielt, wenn gemalte oder fotografierte Objekte sich einer angewöhnten kognitiven Einordnung entziehen und fremd wirken - eine Fremdheit, die Didi-Huberman auch unter Zuhilfenahme von Walter Benjamins Begriff der "Aura" beschreibt. Benjamin: "Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag."4

 

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René Alexander Herar

 

 

1J. LACAN , Vom Blick als Objekt klein a, in: ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI (1964), Weinheim 1987, 71–126, hier 79, im Original als: Du regard comme objet petit a, in: Le Séminaire XI, Paris 1973, 63–109, 79.

2Der Begriff 'Unbestimmtheitsstelle' wurde im Wesentlichen in seiner Hauptschrift: R. INGARDEN, Das literarische Kunstwerk (polnische Erstveröffentlichung 1930, deutsche Übersetzung 1960), ferner in: R. INGARDEN, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (polnische Erstveröffentlichung 1936, deutsche Übersetzung 1968) sowie in den Aufsatzsammlungen Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk-Bild-Architektur-Film (Tübingen 1962) und Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967, Tübingen 1969 formuliert.

3Vgl. zum Begriff der Irritation vgl. N. LUHMANN: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S.118 f. sowie N. LUHMANN: Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit?; in: Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, S.61f.

4W. BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1977, S. 6.

“shut your eyes and see“ 1

 

 

 

"Wie es benennen? Wie es angehen? Dieses Etwas, dieses Dennoch befinden sich am Ort einer Öffnung und einer Spaltung, wo die Vision hin- und hergerissen ist zwischen Sehen und Anblicken, wo das Bild hin- und hergerissen ist zwischen Repräsentieren und Präsentieren. In diesem Riß arbeitet etwas, das ich nicht fassen kann - oder das mich, dauerhaft, nicht ganz fassen kann -, da ich nicht träume, das mich aber dennoch in der Sichtbarkeit eines Gemäldes heimsucht wie ein kurzlebiges und partielles Blickereignis."2

 

Aldous Huxley definiert in seinem Buch ’The Art of Seeing’, deutsch ’Die Kunst des Sehens’, das 1943 in der englischen Originalversion erscheint, den Vorgang des Sehens als einen dreiteiligen Prozeß: Wahrnehmen, Auswählen und Erkennen. Die Kunsthistorikerin Susanne Neuburger schreibt dazu im Katalog ’René Herar – Bilder 94’ über das von Huxley erstellte Modell des Sehens: "Zunächst also gibt es das Rohmaterial für das Sehen, die 'Sensa', Farbflecke ohne Bedeutung, die wahrgenommen werden; alles ist gleich. Mit dem Wahrnehmen erfolgt ein Prozess des Auswählens, und im Erkennen wird ein 'Sensum' zum Gegenstand der Außenwelt. Die Augen vermitteln die Sinneswahrnehmung, der Verstand erkennt. Dieser Vorgang scheint mir ein Modell für eine (abstrakte) Malerei, die den Verstand ausgeschaltet hat, um die 'Sensa' darzustellen, wenn Licht und Farbe die Herrschaft über den Diskurs übernehmen und als archaisches 'Davor' ungegenständliches Rohmaterial in den Bildraum der Moderne eingeschleust hat. Allein die Vorgänge laufen simultan und in jedem 'Sensum' ist auch schon die Erkenntnis der Malerei und ihrer Geschichte enthalten, so dass es zu jenem schwierigen Prozess des Abstrahierens kommen muss."3

 

An Huxleys Modell der drei Phasen läßt sich eine Analogie zu den drei Begriffen formulieren, die der Maler Paul Cézanne explizit verwendete, wenn er sein Arbeitsverfahren analysierend beschrieb. Die für ihn zentralen Themen seiner Arbeit waren: 'Sensation', 'Motif' und 'Réalisation'. 'Sensa' korreliert mit Cézannes Begriff 'Sensation', der im Französischen 'Empfindung' oder allgemeiner gesagt 'Sinneswahrnehmung' bedeutet. Cézanne meint in erster Linie die visuelle Wahrnehmung, die als optischer Sinnesreiz vom Objekt ausgeht und darüberhinaus zweitens die korrespondierende psychische Reaktion, die an diese Wahrnehmung gekoppelt ist. Cézanne setzt das darzustellende Objekt, also die Arbeit an der Abbildung der Objekte oder ihre Repräsentation nicht ins Zentrum seiner malerischen Praxis, sondern vor allem die 'Sensation'. 'Sensation' hier im Sinne von Nachspüren der persönlichen Erfahrung und der damit verbundenen Emotion, als Reaktion auf zuerst gesehene und dann gemalte Farbflecken. 'Le motif' ist der zweite Begriff bei Cézanne. Das ‘Motiv’, oft in seriellen Bildfolgen, wie beispielsweise die der Montagne Sainte Victoire durchgearbeitet, ist hier nicht nur der erste gegenständliche Entwurf zum Bild, sondern ein sich in Beziehung setzen des Malers zu einem äußeren Objekt. Cézanne selbst beschreibt diesen Vorgang als eine Form der Verschränkung. Innovativ, ja geradezu revolutionär an dieser Art des malerischen Bauens - ein Prozeß, der gleichzeitig innen- und außenbestimmt ist - erscheint hier die verstärkte Betonung auf die internen Wahrnehmungsvorgänge.

 

'Réalisation' - Cézannes dritter Zentralbegriff - hat viele Bedeutungen und kann unter anderem ins Deutsche als 'begreifen' oder 'erkennen', aber auch 'vollbracht werden' übersetzt werden. Im Prozeß des Malens, in der Réalisation entwickelt sich vordergründig die Erarbeitung und das Vollenden des Motives, zugleich aber entsteht auch der Abdruck seiner malerischen Suche, sehend, malend, tastend, dem visuellen Rohmaterial der 'Sensa', der geschauten Flecken auf der Spur - im Versuch, das 'Sensum' zu realisieren.

"Er versuchte eine spontane, anfängliche oder primordiale Wahrnehmung zu fassen zu bekommen und im Gemälde zu artikulieren, noch bevor sie zu Gestalten und Dingen erstarrt ist..."4 Mit diesen Worten analysiert der Kunsttheoretiker Johannes Meinhardt in seinem Essay 'Vom Ursprung der ästhetischen Erfahrung' die Arbeitsweise Paul Cézannes. Noch bevor sie zu Gestalten und Dingen erstarrt ist, heißt hier: bevor der Maler als Beobachter aus flottierenden Impressionen der Einzelteile und visuellen Muster ein strukturiertes System bildet, das ihm die Umwelt in der alltäglichen Praxis überhaupt strukturiert und erfahrbar macht - wenn man so will - dem Organismus des Malers sozusagen die visuelle Orientierung ermöglicht. "Der Weltmoment, den Cézanne malen wollte und der seit langem vergangen ist, schlägt uns auch weiterhin von seinen Gemälden entgegen, und seine Berglandschaft ‚Sainte Victoire‘ erwächst immer wieder neu von einem Ende der Welt zum anderen, anders, aber nicht weniger intensiv als in dem harten Fels oberhalb von Aix."5 Dieser immer noch spürbare eingefangene Weltmoment, in Flecken und Mustern geronnener Malerei, die den Raum, die Landschaft oder das Objekt bilden, spiegelt uns mehr die Wahrnehmung der Welt anstatt die Welt an sich zu spiegeln. Es ist jene Struktur aus leeren, in sich bedeutungslosen Formen im Moment bevor sie zur Wirklichkeit gerinnt, um deren Erfassung und Darstellung der Maler Cézanne ringt, deren Erforschung er ins Zentrum seiner Arbeit stellt. Dass Cézanne als Proponent der damaligen Avantgarde einen kulturellen Paradigemenwechsel am Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht als einzelner verkörpert, läßt sich auch bei Friedrich Nietzsche erkennen, der etwa zeitgleich zu Cézannes malerischer Radikalisierung postuliert : "Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches »Erkennen«."6

 

"In dem Augenblick, in dem Cézanne Äpfel malt, macht er, indem er Äpfel malt, offenkundig etwas ganz anderes, als daß er Äpfel malt - obwohl seine letzte Weise, sie nachzuahmen, die die packendste ist, am weitesten an der Technik der Vergegenwärtigung des Objekts orientiert ist. Je mehr indessen das Objekt vergegenwärtigt ist als nachgeahmtes, um so mehr erschließt es uns die Dimension, in der die Täuschung zerbricht und auf etwas anderes zielt."7 Für den Psychoanalytiker Jacques Lacan - Mitbegründer des französischen Strukturalismus - ist Cézannes malerisches Oeuvre der ideale Fall, um seine Theorie zu illustrieren, dass die Kunst das Objekt nur umkreist, dass Kunstwerke die Objekte nur scheinbar nachahmen, dass sie sie einerseits re-präsentieren und gleichzeitig auf etwas, das sie nicht sind, daher auf Abwesendes weisen. Auf welches Abwesende weisen Kunstwerke abseits ihrer rein formalen Erscheinung hin? Will man dieser Frage nachgehen, kann man der Argumention Lacans folgen und eine Sprosse nehmen, um auf die Metaebene seiner psychologischen Interpretation der Situation zu kommen. Lacan löst sich von der kunsthistorischen Fragestellung, welche Bedeutung - verborgen oder evident - das Kunstwerk als Artefakt enthalten könnte. "Die kunstwissenschaftliche Frage, was dieses oder jenes Kunstwerk bedeute, wird vielmehr durch die grundsätzliche Frage ersetzt, was den Maler überhaupt dazu bewegt, ein Bild zu produzieren, und was umgekehrt dem Betrachter widerfährt, wenn er Bilder anschaut. ‘Bedeutung’ erhält in beiden Fällen die Struktur eines Ereignisses."8

 

In der philosophischen Argumentation von Bernhard Waldenfels ist Sehen im phänomenologischen Sinn immer auch ein Sich-selber-Sehen, Bildproduktion stets ein Sich-Selbst-ins-Bild-Setzen.9 Waldenfels schreibt in seinem Essay Ordnungen des Sichtbaren: "Der Künstler macht offensichtlich nicht nur sichtbar, sondern er macht auch sehend, und zwar andere und zunächst sich selbst."10 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang der Gedanke, dass der Betrachter seine Perspektive als derjenige, der etwas sehen will, gegen die Produktionsperspektive desjenigen, der etwas zu sehen gibt eintauscht. Das Bild zeigt infolgedessen etwas, das die Selbstbespiegelung des Subjekts durchkreuzt. Es findet also hier in einem gewissen Sinn eine Kollision von Interessen statt. Das Sich-selber-Sehen, auch das Sich-selber-Sehen-Wollen, kollidiert mit dem Anspruch des Bildes dieses Sehen zu stören. Es zu unterlaufen und zu irritieren. Sich beim Sehen zu sehen, das heißt nach der Definition von Waldenfels, das eigene Sehen als Blick zu sehen. Ein Umstand, der im Prozeß des Malens, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Der Blick, so Lacans These, kann sich nur entlang des inneren Standpunktes entwickeln, entlang des Standpunktes, der durch die psychischen Filter des Beobachters bestimmt wird. Die Inskription oder die Immersion ins Tableau entsteht dieser Theorie entsprechend aus dem Begehren des Beobachters, also aus dem emotionalen Antrieb, selbst Teil der Anordnung, der visuellen-räumlichen Konfiguration zu werden, selbst Teil eines Tableaus zu sein, in ein Bild ›einzutauchen‹. Der Blick, der nach außen greift, wird demnach eine Projektion der Innenseite des Begehrenden auf das Feld der Außenseite, auf das Feld der Bildfläche. Bernhard Waldenfels' Formulierung kann analog dazu als Vorstellung dienen: "Sehend antworten wir auf das, was unseren Blick anrührt, bevor wir sehen, was es ist."11

 

Schon im ersten Augenblick oder genauer gesagt vor dem ersten bewußten Blick weben sich subjektive Vorstellungen und persönlich gefärbte Ergänzungen in die Wahrnehmung des Betrachtenden ein. In Wahrheit zeigen Bilder nur einen winzigen Ausschnitt, alles andere wird in der Abschattung - wie Edmund Husserl es nennt - sozusagen absorbiert. Brisant ist in diesem Zusammenhang, dass die abgeschatteten Leerstellen auch die Schnittstellen bilden, wo das Bild in eine kognitive Struktur im Bewusstsein des Beobachters übersetzt wird. Die Möglichkeiten der Deutung gehen weit über das hinaus, was am materiellen Objekt selbst als reine beobachtbare Information vorhanden ist. Ihre Varianten der Lesbarkeit sind potentiell unendlich, aber zumindestens so zahlreich wie es tatsächlich Beobachter des materiellen Objekts gibt. Die Leerstellen von Bildern sind also die entscheidenden Zonen, die beim Betrachter kognitive Impulse der Irritation auslösen.12 Einfacher läßt sich diese Situation oder diese Form der Übersetzung verstehen, wenn man an den szenischen Schnitt beim Film denkt. Genau in diese Schnittstellen haftet sich die Vorstellung des Beobachters an und stimuliert seine Vorstellungswelt, seine Fantasie. Unvermeidlich steht daher immer der Wahrnehmungsfilter des Betrachters als vermittelndes Medium gleichsam als Auswahl- und Reduktionsmodus vor dem beobachteten Resultat. Wenn wir die Wahrnehmbarkeitsstruktur von Bildern wie oben beschrieben zur Kenntnis nehmen, dann wird einsehbar, dass sie im Prinzip auf einer Dialektik von Erscheinung und Entzug, also sowohl der Einblendung und als auch der Ausblendung beruhen, einer Dialektik des 'Sich-Zeigens' und 'Sich-Entziehens'. Fotografie und Malerei machen daher nicht nur sichtbar, sondern bringen aufgrund der ontologischen Unschärfe der Beobachtung auch zum Verschwinden. Das heißt, dass durch das Bildgewebe immer zusätzlich ein diffuses 'Mehr' oder 'Dahinter" hindurchschimmert. An diese Leerstellen haftet sich sozusagen das Begehren des Subjekts und dessen "In-Beziehung-Stehen" mit den Bildinhalten. In dieser Zone der "Lücken" bildet sich der intensivste Bezug zwischen Betrachter und dem Bild. Erst von dort aus entfaltet dieser nicht integrierbare Teil der visuellen Struktur die emotionale Wirkung im Subjekt.

 

Lacan: "Was Licht ist, blickt mich an, und dank diesem Licht zeichnet sich etwas ab auf dem Grunde meines Auges – nicht einfach jenes konstruierte Verhältnis, das Objekt, bei dem der Philosoph hängenbleibt – sondern die Impression, das Rieseln einer Fläche, die für mich nicht von vorneherein auf Distanz angelegt ist."13 Der Blick des Beobachters wird also nicht allein wegen dem, was es im Feld zu sehen gibt gefangen, sondern zwingender von dem was er nicht sieht, und das von seinem Begehren an diesen Stellen eingetragen und ergänzt wird. Der Kunsthistoriker Michael Lüthy bezeichnet dieses Ereignis treffend als "....ein “Rendez-vous”, zu dem man stets gerufen ist und das man dennoch immer verpasst."14

Der französische Philosoph Roland Barthes benennt das daraus sich ergebende Problem: "Der sich nach außen richtende, selbst dabei aber nicht beobachtbare und der Funktion des Begehrens folgende Blick ist es, der das Subjekt in einer konstitutiven Unwissenheit darüber läßt, was sich jenseits der von ihm erblickten Scheinwelt der Objekte befindet."15 Die Suche des begehrenden Subjekts kann daher nicht anders verlaufen, als in einem Prozeß unfreiwilliger permanenter Subversion der eigenen Erwartung gegenüber. Sicherheit stellt sich kaum jemals ein. Es ist daher eine durchaus erklärbare Konsequenz, dass Paul Cézanne, der wie ein exzessiver Schmetterlingsfänger immer neue Versuche unternimmt, primordiale Impressionen, Flecken, rieselnde Flächen zu erhaschen und auf Bildträger zu bannen, wenige Wochen vor seinem Tod in einem Brief an den Maler Emile Bernard schreibt: "Werde ich das so sehr gesuchte und so lange verfolgte Ziel erreichen? Ich wünsche es, aber so lange es nicht erreicht ist, bleibt ein gewisser Zustand von Unbehagen bestehen, der erst verschwinden wird, wenn ich den Hafen erreicht haben werde, das heißt, wenn ich etwas realisiert haben werde, das sich besser als bisher entwickelt."16 Wir können nicht wissen, ob es dem Maler Cézanne jemals in den Sinn gekommen sein kann, die Idee von der Autonomie seiner Vorstellungen, seines Sehens grundsätzlich zu hinterfragen, ob er erkennen konnte, dass in letzter Konsequenz sein Sehen gewissermaßen ihm nicht selbst gehört hat. Vieles deutet in seinen schriflich festgehaltenen Reflexionen darauf hin, dass er gespürt haben muss, dass in der Ambivalenz des Bildes eine Spaltung existiert, die daraus resultiert, wie Lacan sagt, dass das Subjekt sich in seinem Sehen stets diesseits und jenseits seiner selbst befindet. Es stellt sich immer als etwas anderes dar. Das was es zu sehen gibt, ist nicht das, was zu sehen gewünscht wäre, denn was man sehen will, kann nie das sein, was man erblicken wird. Immer ist unser Blick unserem Sehen eine minimale Zeiteinheit voraus, immer sind wir damit beschäftigt, mit unserem aus persönlichen Erfahrungen gewebten Filter umgeben hinterherzulaufen, den Blick sozusagen einzuholen. Der Maler - und dafür ist Cézanne ein ideales Beispiel - sieht und setzt die Flecken, Flächen und Striche wie im Blindflug, um dann zu sehen, ob der Blick "gestimmt" hat, ob es möglich ist, diesen Blick sich selbst oder den anderen, die immer auch mitgedacht werden, dem Publikum zu zeigen, zuzumuten. Immer hat man es mit einer Spaltung zu tun, weil die Totalität eines Bildes weder zur Gänze sichtbar noch unsichtbar ist, weil seiner Präsenz immer eine Unerreichbarkeit gegenübersteht. Alberto Giacometti "Ich weiß nicht genau, was ich sehe. Es ist zu komplex. So muß man einfach versuchen, das Sichtbare zu kopieren, um sich darüber Rechenschaft zu geben, was man sieht".17

 

Der Blick kommt dem Auge prinzipiell zuvor, diese Situation zeigt sich gerade in der Produktion und Rezeption der Malerei auf anschauliche Weise. Lacans Beobachtung, dass das Subjekt sich in seinem Sehen stets diesseits und jenseits seiner selbst befindet spitzt sich in seiner These zu, dass der Blick die 'Kehrseite des Bewußtseins' ist. Wer ist der Beobachter und in welcher Beziehung steht überhaupt das Gesehene im Verhältnis zum 'Auge' des Beobachters? Eine dichotomische Spaltung erfährt das Sehen einerseits in eine Wahrnehmung, die man auch als profane Abklärung einer Raumsituation verstehen kann, die üblicherweise - pointiert gesagt - dem Überleben dient, als auch zugleich in den Blick, der die visuelle Information, die von einem betrachteten Gegenstand ausgeht, sozusagen auffängt, um dem was uns "anblickt" oder "angeht" nachzuspüren. Der Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman nimmt die Lacan'sche Idee von der Spaltung von Auge und Blick auf, geht in diesem Zusammenhang allerdings einen Schritt weiter. Er spricht nicht allein von einer Spaltung, die dadurch entsteht, dass das, was der Betrachter sieht, ihn anblickt: " Es besteht darin, sowohl über das, was wir sehen, als auch über das, was uns anblickt,- imaginär - hinausgehen zu wollen"18 Dieses Angeblickt-werden des Betrachters von der Objektseite aus führt Didi-Huberman auf die Wahrnehmung einer Abwesenheit, eines Verlusts oder Entzuges zurück. Wie lässt sich diese Aussage verstehen? Die Beschreibung der Situation des "Angeblickt-werdens" dient als eine rhetorisch-philosophische - man könnte sagen - List der logischen Umkehrung. Objekte der Beobachtung verfügen selbstverständlich von sich aus über keine Wahrnehmungsmöglichkeiten. Sie sind lediglich ein Spiegel. "Aus-gebildet" und vollendet werden sie durch den Blick des Beobachters.

 

Während Lacan alle Impulskraft dem Begehren und hier durchaus dem libidinösen Begehren des Beobachters zuschreibt, dehnt Didi-Huberman das Begehren auf das Feld der Metapsychologie aus. Er bietet uns eine Ahnung an, eine Möglichkeit - wenn man so weit gehen will - auf Erlösung im Einsatz eines fiktiven Modells, "in dem alles - Volumen und Leere, Körper und Tod - reorganisiert wird, um als Bestandteil eines großen Wachtraums fortzubestehen."19 Es ist ein Angebot, dass die Möglichkeit in Betracht zieht, das begehrende, auch oft libidinöse 'Getrieben sein' in der Kunstrezeption, beim Anschauen von Bildern zu transzendieren. Um die - wie er es formuliert - "unausweichliche Spaltung des Sehens" zu unterlaufen, vor allem wenn das Sehen im Zusammenhang mit der Betrachtung von Kunstwerken steht, fordert Didi-Huberman uns als Bildbetrachter auf: "Wir müssen die Augen schließen, um zu sehen, während der Akt des Sehens uns auf die Leere verweist und auf sie hin öffnet, welche uns anblickt, uns betrifft und in einem bestimmten Sinne konstituiert."20 Aufschlussreich ist hier der Vergleich zwischen Wachzustand und Traumerlebnis, zwischen den Bildern der Kunst und den Bildern des Traums. Didi-Huberman unterscheidet die Kraft unseres Sehens, wenn wir wach und bei Verstand bzw. "wissend" sind und die Kraft unseres Blickes als Schlafende. "Gemälde sind natürlich keine Träume. Wir sehen sie mit offenen Augen, aber gerade das ist es vielleicht, was uns lästig ist und uns irgend etwas entgehen lässt. Lacan hat sehr genau beobachtet, "daß im sogenannten Wachzustand der Blick elidiert ist, wobei nicht nur elidiert ist, daß es anblickt, sondern auch daß es zeigt".21

 

Didi-Huberman argumentiert, dass es zwei unterschiedliche Erfahrungen und Rezeptionsweisen sind, wenn wir einerseits Bildwerke beispielsweise in einer Ausstellung wahrnehmen, wenn wir in Wirklichkeit vor ihnen stehen und andererseits wie wir uns in den visuellen Bildern unserer Träume verhalten. Die Bilder der Träume sind ephemere Passanten und lösen sich als schnell schwächer werdende Erinnerungen nach und nach auf, um in Form losgelöster Splitter in unsere "subjektiven" Seinsweisen aufzugehen. Der Vorschlag, den Didi-Huberman uns als Betrachter unterbreiten will, ist also der, dass wir den Bildern einer Ausstellung begegnen sollen wie den vorüberhuschenden Bildfetzen eines Traumes, vielleicht blinzelnd, vielleicht gedankenverloren oder ein wenig betäubt wie nach dem Aufwachen nach einer Siesta an einem heißen Nachmittag im Sommer oder vielleicht eben mit geschlossenen Augen oder zumindestens mit Blicken durch den lichtdurchlässigen Vorhang der Wimpern. Und manche Maler - wie auch Paul Cézanne einer ist - machen es uns leichter zu ahnen, dass sich in ihren Gemälden ein Spalt öffnet. Ein Spalt zu einem "Zwischenraum", durch den wir eine Brücke zu einer Insel überschreiten können, in eine Zone, die Jean Cocteau passenderweise "Niemandsland des Zwielichts" genannt hat.

 

"Mit anderen Worten: das visuelle Ereignis eines Gemäldes geschieht erst von jenem Riß aus, der vor unseren Augen das, was als erinnert repräsentiert wird, von allem trennt, was sich als Vergessen präsentiert. Die schönsten Ästhetiken, die, um sich ganz der Dimension des Visuellen öffnen zu können, von uns erwarten, daß wir die Augen vor einem Bild verschließen, um es nicht mehr zu sehen, sondern um es nur noch anzublicken, und um nicht mehr zu vergessen, was Blanchot "die andere Nacht" genannt hat, die Nacht des Orpheus."22

 

 

 

 

René Alexander Herar

 

 

 

1J. Joyce, Ulysses, 1961, S.37; Deutsch: J. Joyce, Ulysses, Übersetzt von H. Wollschläger, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, Einmalige Sonderausgabe 1979, S. 53.

2G. Didi-Huberman, Vor einem Bild, Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000, S. 162 f.

3S. Neuburger, Duo quum faciunt idem / non est idem, in: R. Herar, Bilder 94, Amt der Niederösterreichischen Landesregierung (Hrsg.), Wien 1995.

4J. Meinhart, Vom Ursprung der ästhetischen Erfahrung, Katalog ’Kurt Kocherscheidt – Das fortlaufende Bild’,

Verlag Walther König, Köln, 1. Auflage, 2003, S. 208.

5M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hans Werner Arndt (Hg. u. Übers.), Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 13-43.

6F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale. Werke in drei Bänden, München 1954, Band 2, S. 857-882.

7J. Lacan: Das Seminar Buch VII (1959-1960), Die Ethik der Psychoanalyse, N. Haas und H.-J. Metzger (Hg.), Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin 1996, S. 174.

8M. Luethy, Blickzähmung und Augentäuschung, zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von C. Blümle und A. v. d. Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265-288.

9S. Knaller, Die Realtität der Kunst: Programme und Theorien zur Literatur, Kunst und Fotografie seit 1700, Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2015, S. 54.

10B. Waldenfels, Ordnungen des Sichtbaren, Zum Gedenken an Max Imdahl, in: Boehm/Stierle (Hg.), Was ist ein Bild?, Verlag Wilhelm Fink, 1995, S. 233.

11B. Waldenfels, Sinnesschwellen, Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, in: A. Heitmann/ H. Roswall Laursen (Hg.), Romantik im Norden, Frankfurt a. M. 1999, S.146.

12Vgl. zum Begriff der Irritation siehe N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S.118 f. sowie N. Luhmann, Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit?, in: N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, S.61f.

13J. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI (1964), nach J.-A. Miller (franz.) und N. Haas (dt. Hg.), Olten/Freiburg im Breisgau, Walter-Verlag 1978, S. 79-83, 86-109.

14M. Luethy, Blickzähmung und Augentäuschung, Zu Jacques Lacans Bildtheorie, C. Blümle und A. v. d. Heiden (Hg.), Zürich/Berlin 2005, Kapitel 2 "Blick und Fleck", S. 265-288.

15C. Brune, R. Barthes - Literatursemiologie und literarisches Schreiben, Königshausen & Neumann, 2003, S. 112.

16P. Cézanne, Briefe an Emile Bernard (21.September 1906), in: M. Doran (Hg.), Gespräche mit Cézanne, Zürich 1991, S.66f.; frz.: M. Doran (Hg.), Conversations avec Cézanne, Paris 1978, S.47.

17B. Waldenfels, Ordnungen des Sichtbaren, Zum Gedenken an Max Imdahl, in: Boehm/Stierle (Hg.), Was ist ein Bild?, Verlag Wilhelm Fink, 1995, S. 233.

18G. Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, Wilhelm Fink Verlag, München 1999, S. 24.

19G. Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, Wilhelm Fink Verlag, München 1999, S. 24.

20G. Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, Wilhelm Fink Verlag, München 1999, S. 13.

21G. Didi-Huberman, Vor einem Bild, Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000, S. 162.

22Vgl. M. Blanchot, "Le regard d'Orphée", L'espace littéraire, Gallimard, Paris 1955, S. 227-234, zitiert nach G. Didi-Huberman, Vor einem Bild, Carl Hanser Verlag, München-Wien 2000, S. 163.

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